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Otitis media Haupttext
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Akute Otitis media (AOM), Mittelohrentzündung

Evidenzbasierte Leitlinie zu Diagnose und Therapie.
Entwickelt durch das medizinische Wissensnetzwerk „evidence.de“ der Universität
Witten/Herdecke

Version 11/2002
Eine Aktualisierung dieser Leitlinie ist nicht geplant (Stand September 2007)

Haupttext

Die hier vorliegende Version richtet sich an Ärzte und Gesundheitsfachleute.
Für Eltern, Betreuer und Betroffene existiert eine
Patientenleitlinie.

Die Leitlinie „Akute Otitis media“ in der Version 11/2002 basiert auf anderen nationalen und internationalen Leitlinien-Dokumenten, die übersetzt, inhaltlich und formell überarbeitet und an hausärztliche Erfordernisse angepasst wurden. Eine Aktualisierung wird nicht mehr vorgenommen.

Impressum: Entwicklung der Leitlinie, Autoren, Copyright..

Gliederung

    1. Einleitung
      1.1 Versorgungsproblem
      1.2 Adressaten (Zielgruppe) der Leitlinie, Ausschlusskriterien
      1.3 Ziele dieser Leitlinie
      1.4 Einteilung von Empfehlungsklassen
      1.5 Wichtigste Quellen dieser Leitlinie
    2. Definition, Ätiologie, Komplikationen
      2.1 Definition, Ätiologie
      2.2 Häufigkeit der Erkrankung
      2.3 Erreger der Infektion
      2.4 Risikofaktoren und deren Minimierung, Prophylaxe
      2.4.H Risikofaktoren und Prophylaxe (Hintergrundinformationen)
      2.4.1 Empfehlung - Risikofaktoren und Prophylaxe
      2.5 Mögliche Komplikationen einer AOM (Abwendbar gefährliche Verläufe)
      2.5.H Mögliche Komplikationen (Hintergrundinformationen)
      2.6 ICD-Klassifikation
    3. Diagnostik
      3.1 Symptome
        3.1.1 Symptome, die auf eine akute Otitis media hindeuten
        3.1.1.H Symptome der Otitis media (Hintergrundinformationen)
      3.2 Diagnosekriterien
        3.2.1 Säuglinge und junge Kleinkinder
        3.2.2 Ältere Kinder
        3.2.3 Empfehlung - Nachweis Paukenerguss
      3.3 Basisdiagnostik
        3.3.1 Anamnese
        3.3.2 Körperliche Untersuchung
        3.3.3 Untersuchung von Kopf und Ohren
        3.3.4 Untersuchung von Gehörgang und Trommelfell
        3.3.5 Entfernung des Cerumens
        3.3.6 Otoskopie
        3.3.7 Tympanometrie
        3.3.8 Paracentese
        3.3.9 Empfehlung - Basisdiagnostik
      3.4 Diffenzialdiagnosen
      3.5 Probleme und Unsicherheiten bei Untersuchung und Diagnose
        3.5.H Probleme und Unsicherheiten bei Untersuchung und Diagnose (Hintergrundinformationen)
        3.5.1 Tabelle 1: Diagnostische Wertigkeit verschiedener Kriterien bei der pneumatischen Otoskopie bzw. der Tympanometrie ...
        3.5.2 Empfehlung - pneumatische Otoskopie
         
    4. Therapie
      4.1 Therapieziele
      4.2 Prognose ohne antibiotische Therapie
      4.3 Symptomatische Behandlung
        4.3.1 Nicht-medikamentöse symptomatische Behandlung
        4.3.2 Medikamentöse symptomatische Behandlung
        4.3.2.1 Systemische Analgetika
        4.3.2.2 Systemische Analgetika in Deutschland
        4.3.3 Empfehlung - Systemische symptomatische Behandlung
        4.3.4 Lokale Analgetika
        4.3.4.1 Empfehlung - lokale Analgetika
        4.3.5 Adrenergika, Antihistaminika
        4.3.5.1 Empfehlung - Abschwellende Nasentropfen
      4.4. Angemessene antibiotische Behandlung
        4.4.H Angemessene antibiotische Behandlung (Hintergrundinformationen)
        4.4.1 Einsatz von Antibiotika
        4.4.2 Wahl des Wirkstoffes
        4.4.2.1 Liste empfohlener Antibiotika
        4.4.3 Dauer des Einsatzes
        4.4.4 Nebenwirkungen und Folgen des Einsatzes von Antibiotika
        4.4.5 Zusammenfassende Aspekte zur Antibiotikatherapie
        4.4.6 Schlussfolgerungen Antibiotikatherapie
        4.4.7 Einschränkungen für Kinder unter 2 Jahren
        4.4.8 Empfehlungen - Antibiotikatherapie
      4.5 Nachuntersuchungen
      4.6 Langfristige antibiotische Prophylaxe

    5. Impressum

1. Einleitung

    1.1 Versorgungsproblem

    Für die akute Otitis media (AOM) gilt:

    • Sie ist die häufigste Ursache für Arztbesuche im Kindesalter [33].
    • Etwa 40% aller Kinder erkranken vor dem 10. Lebensjahr mindestens einmal an einer AOM [41].
    • Die Diagnose AOM wird zu häufig gestellt, bedingt durch Unsicherheiten und Unschärfen bei der akkuraten Diagnosestellung [52].
    • 42% der Antibiotikatherapien bei Kindern werden mit einer AOM begründet [42].
    • Die Inzidenz hat sich von 1975 bis 1990 verdoppelt [21].
    • Sie ist die Diagnose, die am häufigsten eine Antibiotikatherapie im ambulanten Bereich bedingt [20] [17].
    • Unter Antibiotikatherapie wird eine zunehmende Resistenzentwicklung beobachtet [35] [15] [13].
    • Während in Deutschland, Grossbritannien, Australien und den USA nahezu alle Kinder antibiotisch behandelt werden, ist dies in den Niederlanden bei weniger als 32% der Fall [26] [29].

    1.2 Adressaten (Zielgruppe) der Leitlinie, Ausschlusskriterien:

    Die Leitlinie bezieht sich auf Kinder und Jugendliche im Alter von 0 bis 18 Jahren mit Symptomen, die den Verdacht einer akuten Otitis media begründen.

    Es gelten folgende Ausschluss-Kriterien für diese Leitlinie:

    • Fiebernde (> 38° C) Säuglinge unter 3 Monaten
    • Deutlich reduzierter Allgemeinzustand
      („septisches“ Aussehen, Bewusstseinseintrübung, Schocksymptome, Atemstörung)
    • Persistierendes Erbrechen
    • Meningismus
    • Zerebraler Krampfanfall
    • Fazialisparese oder andere neurologische Ausfälle
    • Akute Otitis media mit bereits eingetretenen Komplikationen
    • Frühere Otitis mit ernsten Komplikationen
    • Frühere Mastoiditis
    • Z.n. Operation des Mittelohres
    • Trommelfellperforation, Paukenröhrchen
    • Missbildungen des Ohres
    • Bereits begonnene antibiotische Therapie
    • Angeborene oder erworbene Immundefekte

    1.3 Ziele dieser Leitlinie:

    Diese Leitlinie soll dazu beitragen

    • die Qualität und Sicherheit der Diagnosestellung zu verbessern.
    • Schmerzen und Symptome der akuten Otitis media innerhalb eines adäquaten Zeitraumes zu beenden.
    • Komplikationen, Rezidive und Chronifizierungen zu vermeiden.
    • Nebenwirkungen und Folgeerscheinungen der Therapie zu minimieren.

    1.4 Einteilung von Empfehlungsklassen (nach AHCPR 1993/94) [1]

      A (Evidenzgrad I)
      Ist belegt durch schlüssige Literatur guter Qualität, die mindestens eine randomisierte, kontrollierte Studie enthält.

      B (Evidenzgrad II, III)
      Ist belegt durch gut durchgeführte, nicht randomisierte, klinische Studien.

      C (Evidenzgrad IV)
      Ist belegt durch Berichte und Meinungen von Expertenkreisen und/oder klinischer Erfahrung anerkannter Autoritäten. Weist auf das Fehlen direkt anwendbarer klinischer Studien guter Qualität hin.

    1.5 Die wichtigsten Quellen dieser Leitlinie sind:

    • ICSI, Diagnosis and treatment of otitis media in children. 2001 [37].
    • AHRQ, Management of Acute Otitis Media. 2001. Publication No. 01-E010 [2].
    • Duodecim, Otitis media Guideline Duodecim. EBMG duodecim, Finland, 1998 [22].
    • Prodigy, Prodigy Clinical Recommendation - Acute otitis media. 1998, 1999, 2000, 2001. Department of Health UK 1998, 1999, 2000, 2001 [53].

2. Definition, Ätiologie, Komplikationen

    2.1 Definition, Ätiologie [19] [53]

    Otitis media: Schmerzhafte Entzündung der Schleimhäute des Mittelohres, in der Regel durch aszendierende Infektion über die Tuba Eustachii bei bestehendem oder vorangegangenem oberen Luftwegsinfekt.
    Exogen auch bei perforiertem Trommelfell möglich. Pathologisch-anatomisch findet sich eine hyperämisierte und ödematöse Schleimhaut mit entzündlichen Infiltraten und eitrigem Exsudat in der Paukenhöhle. Durch die Tubenschwellung ist die Drainage behindert, sodass bei spontanem Verlauf ein Durchbruch durch das Trommelfell nach außen erfolgen kann.

    • Akute seröse Otitis media: Entweder kurzdauernd ohne weitere Fortentwicklung oder als Initialstadium einer akuten eitrigen Otitis
      Beginn plötzlich mit heftigen Ohrenschmerzen, Fieber, Schwerhörigkeit, manchmal Schwindel
      Trommelfell gerötet, nicht spiegelnd, Hammergriff nicht mehr deutlich konturiert, Processus brevis jedoch noch sichtbar, Trommelfell ohne stärkere Einziehung oder Vorwölbung, Schallleitungsstörung
    • Akute eitrige Otitis media: Entwicklung aus einer serösen Otitis
      Stechende und/oder pochende, meist heftige Schmerzen, Schwerhörigkeit, Ohrensausen, oft Schmerzen bei Druck auf das Mastoid
      Trommelfell gerötet, vorgewölbt, konturlos
    • Chronische Otitis media: Anhaltende Mittelohrentzündung über mehrere Monate, Perforation des Trommelfelles und eitrige Sekretion möglich.
    • Rezidivierende Otitis media: Drei oder mehr Episoden in sechs Monaten, vier oder mehr Episoden in einem Jahr.
    • Grippe-Otitis: Durch Influenza-Viren mit Haemophilus influenzae- Superinfektion ausgelöst. Otoskopisch: charakteristische Blutbläschen im Gehörgang und auf dem Trommelfell.
    • Serotympanon: Paukenerguss ohne Entzündungszeichen.

    2.2 Häufigkeit der Erkrankung:

    Etwa 40% aller Kinder erkranken vor dem 10. Lebensjahr mindestens einmal an einer Otitis media. Das typische Erkrankungsalter liegt zwischen dem 6. Lebensmonat und dem 4. Lebensjahr.
    Bei Erwachsenen ist die AOM relativ selten [
    35] [53].

    2.3 Erreger der Infektion:

    Die häufigsten bakteriellen Erreger, mit unterschiedlicher Häufigkeitsverteilung je nach Patientenalter, Land und Kontinent sind [7] [53] [3]:

    • Streptococcus pneumoniae,
    • Haemophilus influenzae,
    • Moraxella catarrhalis,
    • Streptococcus pyogenes,
    • Staphylococcus aureus

    Die Bedeutung viral ausgelöster Infektionen wird weiterhin kontrovers diskutiert [5], insbesondere die Bedeutung der Begünstigung bakterieller Superinfektionen durch Tubenfunktionsstörungen und Irritationen der Epithelien. Bei einer Untersuchung an 456 Kindern konnte man bei 41% aus dem Mittelohr Viren isolieren: Respiratory Syncytial Viren (74%), Parainfluenzaviren (52%), Influenzaviren (42%) und Enteroviren (11%). Bei mehr als der Hälfte der Kinder fanden sich gleichzeitig Bakterien: Streptococcus pneumoniae (25%), Haemophilus influenzae (23%) und Moraxella catarrhalis (15%) [32].

    Sonderformen der akuten Otitis media wie die hämatogen fortgeleitete Scharlach- oder Masernotitis kommen heutzutage selten vor, sollten jedoch bei der Diagnosestellung bedacht werden. Im klinischen Alltag ist in der Regel keine sichere Differenzierung zwischen viraler und bakterieller Genese zu Beginn der Erkrankung möglich.

    2.4 Risikofaktoren und deren Minimierung, Prophylaxe

    Die folgenden Faktoren erhöhen das Risiko für die akute Otitis media [63] [37]: (siehe auch 2.4.H)

      Tagesbetreuung außerhalb der Familie (also in Kindergärten, Kindertagesstätten)
      Rauchende Familienmitglieder
      Ein oder mehrere Geschwister
      Otitis media bei anderen Familienmitgliedern
      Gebrauch von Schnullern
      Verzicht auf das Stillen in den ersten 3 Monaten

    Zusammengefasst sind im Hinblick auf die Entstehung einer Otitis media diejenigen Faktoren von Bedeutung, die entweder das Risiko für obere Luftwegsinfektionen im Allgemeinen erhöhen oder zu einer Herabsetzung der lokalen Abwehrmechanismen führen. Diese Erkenntnisse sollten unter Aufklärungsaspekten in Elterngesprächen und Elternmerkblättern (siehe Patientenleitline) Berücksichtigung finden. Ob und in welchem Umfang sich die Inzidenz der Otitis media durch hieraus abgeleitete Präventivmaßnahmen tatsächlich senken lässt, ist bislang nicht anhand prospektiver Studien überprüft worden.

    2.4.1 Empfehlung - Risikofaktoren und Prophylaxe

    Siehe auch Patientenleitlinie Otitis media
    Eltern oder Betreuer sollten ermutigt werden,

    • das Kind von Zigarettenrauch fern zu halten. (B)
    • den Gebrauch von Schnullern zu minimieren. (B)
    • Säuglinge zu stillen. (B)

    2.5 Mögliche Komplikationen einer AOM (Abwendbar gefährliche Verläufe)

    Die bekannten schweren Komplikationen einer akuten Otitis media sind durch sekundären infektiös-eitrigen Einbruch in das umliegende Gewebe gekennzeichnet und können ggf. einen septischen Verlauf nehmen. Im Gefolge einer AOM kann es zu einer Mastoiditis, ggf. auch einer Meningitis, kommen. Eine Begleit-Mastoiditis ohne klinische Symptomatik ist bei der AOM häufig vorhanden. Eitrige Mastoiditiden kommen dagegen sehr selten vor. Ihre Häufigkeit kann mit weniger als 1:1000 angegeben werden [30] [2] (siehe auch 2.5.H).

    Weitere beschriebene Komplikationen:

      Fazialisparesen,
      Hirnabszesse,
      Labyrinthitis,
      Sinusthrombosen,
      chronische Otitis media,
      Hörminderung oder Hörverlust [33].

    2.6 ICD-Klassifikation nach ICD-10 [36] (Auszug)

        H65  Nichteitrige Otitis media
        H65.1 Sonstige akute nichteitrige Otitis media
        H65.2 Chronische seröse Otitis media (“Serotympanon”)
        H65.3 Chronische muköse Otitis media (“Mucotympanon”)
                 Leimohr (Glue ear)
        H65.4 Sonstige chronische nichteitrige Otitis media
        H65.9 Nichteitrige Otitis media, nicht näher bezeichnet

        H66 Eitrige und nicht näher bezeichnete Otitis media
        H66.0 Akute eitrige Otitis media
        H66.3 Sonstige chronische eitrige Otitis media
        H66.4 Eitrige Otitis media, nicht näher bezeichnet
        H66.9 Otitis media, nicht näher bezeichnet

3. Diagnostik

    Die Diagnose „Akute Otitis media“ wird tendenziell zu häufig gestellt [24]. Es ist zu beachten, dass bei Kindern mit akutem oberen Luftwegsinfekt der isolierte otoskopische Nachweis eines matten oder geröteten Trommelfells keinerlei Aussagekraft im Hinblick auf das Vorliegen einer akuten Otitis media hat. Der Befund eines vorgewölbten Trommelfells oder ein sichtbarer Flüssigkeitsspiegel sind als Zeichen eines bestehenden Ergusses zuverlässigere diagnostische Parameter.

    Die pneumatische Otoskopie (hierzulande unüblich) und die Tympanometrie sind in der Lage, die durch den bestehenden Erguss veränderte Trommelfellbeweglichkeit nachzuweisen und erhöhen damit deutlich die diagnostische Treffsicherheit. Bei kooperativen Patienten, entsprechender technischer Ausrüstung und ausreichender Erfahrung wird ihre Anwendung daher ausdrücklich empfohlen [37] [40]. Weitere Einzelheiten zur Problematik einer akkuraten Diagnostik finden Sie unter Punkt 3.5

    3.1 Symptome der akuten Otitis media:

    Die jungen Patienten werden meist in den Wintermonaten vorgestellt, oft mit vorangegangenen grippalen Infekten. Es bestehen starke Otalgien, v.a. nachts, die nach Trommelfellperforation rasch zurückgehen [9]. Die Trommelfellperforation tritt meist am 2.-4. Tag nach Erkrankungsbeginn auf.

    3.1.1 Symptome, die auf eine akute Otitis media hindeuten: [56]

    a) Unspezifische Atemwegssymptome (in über 90 % der Fälle vorhanden)

    • Husten
    • Schnupfen
    • Reizbarkeit
    • Appetitlosigkeit
    • Fieber
    • Kopfschmerzen
    • Erbrechen
    • Bauchschmerzen

    in Verbindung mit

    b) lokalen Symptomen

    • Ohrenschmerzen
    • Völlegefühl im Ohr
    • Hörminderung
    • Ohrenreiben

    Gelegentlich treten auch Tinnitus und „Stimmenresonanz“ auf. Die typische Symptomatik bei akuter Otitis media ist eine Kombination aus unspezifischen Zeichen eines Infektes der oberen Luftwege in Verbindung mit lokalen „Ohr-bezogenen“ Symptomen. Bei Säuglingen und jungen Kleinkindern überwiegen die unspezifischen Symptome, die lokale Symptomatik ist häufig nicht offensichtlich. Bei unklaren akuten Erkrankungen sollte in dieser jungen Altersgruppe grundsätzlich eine Ganzkörperuntersuchung unter Einbeziehung der Ohren erfolgen. (Siehe auch 3.1.1 H)

    3.2 Diagnosekriterien

    Bei Vorliegen folgender Kriterien ist eine AOM wahrscheinlich. (Modifiziert nach 4, 56)

      3.2.1 Säuglinge und junge Kleinkinder

      Symptome eines akuten Atemwegsinfektes (s.o. 3.1.1)

      und

      • Nachweis eines Paukenergusses, gesichert durch
      • vorgewölbtes Trommelfell und/oder
      • Flüssigkeitsspiegel und/oder
      • verminderte Trommelfellbeweglichkeit
        (Nachweis: (pneumatische) Otoskopie/Tympanometrie)

      3.2.2 Ältere Kinder

      Symptome eines akuten Luftwegsinfektes mit lokaler Symptomatik (s.o. 3.1.1)

      und

      • Nachweis eines Paukenergusses, gesichert durch
      • vorgewölbtes Trommelfell und/oder
      • Flüssigkeitsspiegel und/oder
      • verminderte Trommelfellbeweglichkeit
        (Nachweis: (pneumatische) Otoskopie/Tympanometrie)

    3.2.3 Empfehlung – Nachweis Paukenerguss:

    Eine Otitis media kann nur dann sicher diagnostiziert werden, wenn zusätzlich zu den Symptomen des Atemwegsinfektes ein Paukenerguss (direkt oder indirekt) nachgewiesen werden kann. (C)

    3.3 Basisdiagnostik

    3.3.1 Anamnese

    Die Eltern oder Betreuer sollten nach Folgendem befragt werden:

    • bekannte Erkrankungen, angeborene oder erworbene Immundefekte
    • frühere Erkrankungen der Ohren, insbesondere Mittelohrentzündungen mit Komplikationen
    • Fieber
    • anhaltendes Erbrechen
    • Krampfanfall, Krampfanfälle in der Vorgeschichte
    • die Ausschlusskriterien (siehe 1.2) sollten abgefragt werden

    3.3.2 Körperliche Untersuchung

    Bei unklaren akuten Erkrankungen sollte in der Altersgruppe der Säuglinge und Kleinkinder (bis etwa zum 4. Lebensjahr) grundsätzlich eine Ganzkörperuntersuchung unter Einbeziehung der Ohren erfolgen.

    3.3.3 Untersuchung von Kopf und Ohren

    Rötung und Druckschmerz über dem Mastoid sowie ein abstehendes Ohr (bei kleinen Kindern) können Hinweise auf eine bakterielle Mastoiditis geben [19]. Lokale und regionale Lymphknoten können schon durch den Infekt der oberen Luftwege geschwollen sein.

    3.3.4 Untersuchung von Gehörgang und Trommelfell

    Ziel der Untersuchung sollte sein, das Trommelfell mit dem Otoskop in Gänze einzusehen und seine Beweglichkeit zu prüfen.

    3.3.5 Entfernung des Cerumens [22]

    Die Entfernung des Ohrenschmalzes, um die Untersuchung des Gehörganges und des Trommelfelles zu ermöglichen, ist oft der schwierigste Teil des Untersuchungsganges.
    Folgendes sollte beachtet werden:

    • Besondere Vorsicht gilt der schmerzempfindlichen Haut des knöchernen Gehörganges.
    • Eine gute Lichtquelle (Kopflampe) ist erforderlich.
    • Mit Härchen verklebte Partikel werden angefeuchtet indem das Wattestäbchen zuvor mit Wasser oder 50%igem Äthanol getränkt wurde.
    • Trockenes Cerumen kann mit einem Metallhäkchen entfernt werden.
    • Eine Ohrspülung mit handwarmem Wasser ist ebenfalls häufig wirksam. Bei kleinen Kindern wird sie am besten mit einer 20-ml-Spritze mit aufgesetzter Venenverweilkanüle (Braunüle) durchgeführt. Der Strahl ist auf die posteriore Wand des Gehörganges zu richten.
    • Verbleibendes Cerumen kann abgesaugt werden

    3.3.6 Otoskopie (Ohrspiegelung) [22]

    • Das hierzulande übliche Otoskop mit Batteriegriff erlaubt eine unkompliziertere Ausleuchtung des Trommelfelles. Moderne Geräte verfügen über eine Vergrösserungsoptik und einen Gebläseanschluss für die Beweglichkeitsprüfung. Vorteil: Die Handhabung ist einfacher, ebenso wie die Ausrichtung des Lichtstrahls. Nachteil:  Das Gerät ist schwerer und beweglich gegenüber dem Gehörgang.
    • Das pneumatische Otoskop in Kombination mit einer Kopflampe. Vorteil: Enger Kontakt zur Haut des Gehörganges, geringes Gewicht, gute Ausleuchtung. Nachteil: Das Ausrichten des Lichtstrahles auf des Trommelfell erfordert Erfahrung.

    Beide Methoden der Otoskopie sind in der Praxis oft schwierig durchzuführen und erfordern Übung und Erfahrung. Sollte eine adäquate Befundstellung nicht möglich sein, ist die mikroskopische Untersuchung des Mittelohres durch den Facharzt anzustreben.

    Als pathologische Befunde gelten [5] [39]:

    • Nachweis eines Paukenergusses
    • vorgewölbtes Trommelfell
    • verfärbtes (gelblich oder rötlich) oder trübes, undurchsichtiges Trommelfell
    • Gefäßinjektionen des Trommelfelles
    • Flüssigkeitsspiegel
    • verminderte Trommelfellbeweglichkeit
      (pneumatische Otoskopie/ Tympanometrie siehe auch
      3.3.7)

    3.3.7 Tympanometrie [22]

    Die Tympanometrie ist eine zuverlässige Untersuchung, um die Beweglichkeit des Trommelfelles zu messen und damit die Diagnose zu sichern, falls diagnostische Unsicherheit besteht. Gemessen wird die Impedanz (der Schallwiderstand) des Trommelfelles aus der sich die Schwingungsfähigkeit der Trommelfellmembran und der Gehörknöchelchen interpretieren lässt. Der Gehörgang wird durch Ziehen an der Ohrmuschel nach hinten oben gestreckt. Die Tympanometer-Sonde wird luftdicht in den Gehörgang eingeführt, nach ca. 2 Sekunden kann das Resultat der Druckmessung abgelesen werden. Da die Untersuchungsergebnisse durch Unruhe und Weinen verfälscht werden können, sollte die Tympanometrie zu Beginn des Untersuchungsganges erfolgen.

    3.3.8 Parazentese (Myringotomie) [22]

    Die Parazentese, also die Inzision des Trommelfelles, ist indiziert bei Therapieversagern unter Antibiotika und bei Komplikationen. Sie ist im Regelfall nicht erforderlich [57]. Sie führt nicht zu einer beschleunigten Heilung [64] [23] [38], aber zu vorzeitiger Schmerzlinderung.

    Ihre Durchführung setzt ebenfalls Erfahrung voraus. Nach lokaler Anästhesie mit einer speziellen Creme (EMLA ®) für 30-60 Minuten wird im unteren Teil des Trommelfelles eine 1-2 mm lange Inzision mit einem speziellen Skalpell vorgenommen. Das Sekret wird zur mikrobiellen Untersuchung mit einer Kanüle abgesaugt, wobei eine Kontamination am Gehörgang zu vermeiden ist.

    3.3.9 Empfehlungen – Basisdiagnostik:

    Säuglinge und Kleinkinder sollten komplett untersucht werden. (C)

    Das Trommelfell sollte nach Möglichkeit komplett einsehbar sein und seine Beweglichkeit sollte geprüft werden können. Gelingt dies nicht, sollte die mikroskopische Untersuchung durch einen Facharzt angestrebt werden. (C)

    Die Parazentese kann bei Therapieversagern (zur Erregerbestimmung) und bei Komplikationen von einem Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde durchgeführt werden, ist aber in der Regel entbehrlich [
    57]. (B)

    3.4 Differenzialdiagnosen

    Symptome, die denen einer Otitis media akuta gleichen oder ähneln, können unter anderem hervorgerufen werden durch

    • Furunkel im Bereich des Gehörganges
    • Traumatische Trommelfellperforation
    • Fremdkörper im Gehörgang
    • Diffuse Otitis externa
    • Akut exacerbierte chronische Otitis media
    • Post-aurikulare Lymphadenitis
    • Akute Parotitis (z.B. bei Mumps)
    • Weitergeleitete Ohrenschmerzen z.B. durch Zahnschäden, Störungen im Kiefergelenk, Glomustumor
    • Herpes-Läsion im Bereich des Ohres
    • Kindliches Cholesteatom

    3.5 Probleme und Unsicherheiten bei Untersuchung und Diagnose:

    Als Goldstandard für die Diagnose gilt die Parazentese. Das bedeutet strenggenommen: Studien zur Einschätzung der diagnostischen Aussagekraft „typischer“ Beschwerden und Symptome im Kindesalter oder der im klinischen Alltag eingesetzten Untersuchungsmethoden müssten einen Vergleich gegen diesen Goldstandard vornehmen. Entsprechend konzipierte Untersuchungen bei Kindern liegen allerdings nur vereinzelt vor.

    Die Diagnose einer akuten Otitis media ist schwieriger, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Es ist davon auszugehen, dass sie derzeit tendenziell zu häufig gestellt wird [24] [52]. Die Otoskopie als wichtigster Baustein der Diagnostik wird häufig erschwert durch fehlende Kooperation, unzureichend helle Lichtquelle oder Verlegung durch Cerumen [66]. Speziell bei der in angelsächsischen Ländern empfohlenen und verbreiteten pneumatischen Otoskopie kommen mangelnde Abdichtung des Gehörgangs und die Anwendung zu hoher Drucke als Fehlerquellen hinzu. Die Qualität der Befunde ist von der Übung und Erfahrung der Untersucher abhängig und kann durch videogestützte Trainingskurse verbessert werden [52]. Weitere Hintergrundinformationen: 3.5.H

    3.5.2 Empfehlung – pneumatische Otoskopie:

    Die diagnostische Treffsicherheit wird durch den geübten Gebrauch eines pneumatischen Otoskops oder durch die zusätzliche Tympanometrie deutlich verbessert. (C)

     

4. Therapie

    4.1 Therapieziele

    Die Therapie soll dazu beitragen,

    • Schmerzen und Symptome der akuten Otitis media innerhalb von sieben Tagen zu beenden
    • Komplikationen, Rezidive und Chronifizierung zu vermeiden
    • Nebenwirkungen und Folgeerscheinungen der Therapie zu minimieren.

    4.2 Prognose ohne antibiotische Therapie

    Etwa 80% aller Otitiden heilen unter symptomatischer Therapie spontan ab [54]. Komplikationen sind sehr selten; es gibt derzeit keine Evidenz dafür, dass sich Komplikationen durch Antibiotika-Therapie signifikant reduzieren lassen [33] [26] [19] [29].

    4.3 Symptomatische Behandlung

    4.3.1 Nicht-medikamentöse symptomatische Behandlung

    Obwohl die Symptome einer Otitis media häufig dramatisch erscheinen, ist die Erkrankung doch selten ein Notfall. Die meisten Kinder können zunächst symptomatisch behandelt werden. Neben allgemeiner körperlicher Schonung und gegebenenfalls Bettruhe ist bei Fieber eine ausreichende Flüssigkeitsaufnahme empfehlenswert. Symptomatisch hilft bei Schmerzen auch die lokale Applikation von Wärme (ggf. auch Rotlicht).

    4.3.2 Medikamentöse symptomatische Behandlung

    4.3.2.1 Systemische Analgetika

    Die Einnahme von systemischen Analgetika sollte primär unter dem Gesichtspunkt der Schmerzreduktion erfolgen. In Deutschland ist die Anwendung von Paracetamol (10-15 mg/kg KG bis zu vier mal täglich, Tagesgesamtdosis max. 50 mg/kg KG) weit verbreitet. Eine neuere Untersuchung [8] weist auf eine mindestens vergleichbare, wenn nicht bessere analgetische Wirksamkeit von Ibuprofen hin. Eine größere randomisierte und doppelverblindete Studie an 84.192 Kindern zeigte zudem, dass Nebenwirkungen von Ibuprofen im Vergleich zu Paracetamol nicht signifikant häufiger auftraten [45].

    Die gleiche Forschungsgruppe konnte auch für Kinder unter 2 Jahren zeigen, dass Ibuprofen gegenüber Paracetamol keine signifikant häufigeren Nebenwirkungen, wie gastrointestinale Blutungen, Gastritis, Asthma oder Erbrechen bewirkt [46]. Andere vergleichende Untersuchungen z.B. in der Anwendung bei pharyngitischem Schmerz bestätigen diese Beobachtung [58]. In einer doppelblinden randomisierten Studie konnte auch für die Gruppe der Asthmatiker gezeigt werden, dass der Einsatz von Ibuprofen gegenüber Paracetamol kein erhöhtes Risiko darstellt [44]. Es bleibt abzuwarten, ob weitere Untersuchungen diese Tendenzen bestätigen.

    4.3.2.2 Systemische Analgetika in Deutschland:

    Für die konkrete Anwendung stehen in Deutschland zur Verfügung:

    • Paracetamol
      Supp. 125mg, 250mg und 500mg sowie eine orale Suspension
      (10-15 mg/kg KG bis 4 mal täglich, Tagesgesamtdosis max. 50 mg/kg KG).
      Wirkdauer: etwa 6 Stunden.
    • Ibuprofen
      steht als Saft zur Verfügung und ist für Kinder von 6 Monaten bis zu 12 Jahren zugelassen.
      30 mg/kg KG pro Tag , verteilt auf drei bis vier Einzeldosen.
      Wirkdauer beträgt etwa 8 Stunden.
      Suppositorien können in Deutschland erst ab dem 15. Lebensjahr verordnet werden.

    4.3.3 Empfehlungen – Systemische symptomatische Behandlung:

    Eine alleinige analgetische Behandlung kann zu Beginn der Erkrankung (Tag 1- 3) ausreichend sein [65]. (B)

    Ibuprofen hat gegenüber Paracetamol keine Nachteile. (A)

    4.3.4 Lokale Analgetika

    Systematische Übersichtsarbeiten oder Metaanalysen im Hinblick auf den Einsatz lokaler Analgetika liegen derzeit nicht vor. In der klinischen Praxis weichen die Konzepte derzeit weit voneinander ab. Einzelfallstudien zum Einsatz lokaler Analgetika [34] weisen noch keine eindeutigen Ergebnisse auf.
     

    4.3.4.1 Empfehlungen – lokale Analgetika:

    Der Einsatz lokaler Analgetika (Ohrentropfen) kann nicht empfohlen werden. Für die Wirksamkeit gibt es derzeit keine überzeugenden wissenschaftlichen Nachweise. (C)

    4.3.5 Adrenergika, Antihistaminika

    Systemischer Einsatz: In Deutschland kommen systemische Adrenergika und/oder Antihistaminika in der Behandlung der akuten Otitis media kaum zum Einsatz. Eine neuere Metaanalyse [25] zeigt im Übrigen keinen bzw. einen eher geringen Effekt in der Anwendung von systemisch angewandten Adrenergika, Antihistaminika oder einer Kombination aus beiden.

    Topischer Einsatz: Die hierzulande geübte Praxis einer lokalen Applikation schleimhautabschwellender Nasentropfen erscheint pathophysiologisch plausibel. Die Evidenzbasis dafür ist jedoch eher gering. Demgegenüber sind die Risiken häufiger Gaben lokaler Sympathomimetika in jedem Falle abzuwägen [25].

    4.3.5.1 Empfehlungen – Abschwellende Nasentropfen:

    Die hier zu Lande übliche Behandlung mit abschwellenden Nasentropfen kann nicht empfohlen werden. Es gibt dafür keine bzw. nur geringe Evidenz. (A)

    Eine dauerhafte Gabe ist abzulehnen.

    4.4. Angemessene antibiotische Behandlung

    Die antibiotische Behandlung einer akuten Otitis media ist seit längerem Gegenstand national und international geführter, teils kontroverser Diskussionen. Daher soll an dieser Stelle ausführlich Stellung genommen werden. In den Industrieländern variiert die Gabe von Antibiotika bei Otitis media zwischen 31% (Niederlande) und 98% (USA und Australien) [27]. In Deutschland wird der Einsatz von Antibiotika durch die Fachgesellschaften empfohlen [19]. Der Grund für die Verabreichung von Antibiotika ist in der Regel die Angst vor Komplikationen. Neuere Untersuchungen – hier wird auf die aktuellen Metaanalysen [28] [54] Bezug genommen – zeigen, dass die Gabe von Antibiotika zwar die mit der Erkrankung verbundenen Schmerzepisoden abkürzt (siehe auch 4.4.H1), jedoch in den untersuchten Populationen so gut wie keinen Einfluss auf die Komplikationsrate hat (siehe auch 4.4.H2). Auch die Dauer einer Antibiotikagabe (weniger oder mehr als 7 Tage) wirkt sich nicht signifikant auf den Verlauf aus [43].

    In diesem Zusammenhang ist die “Number needed to treat” (NNT) aussagekräftig: Etwa 17 Kinder müssen antibiotisch behandelt werden, um bei einem Kind mit einer Schmerzreduktion nach 2 Tagen rechnen zu können (NNT= 17) [29] (siehe auch 4.4.H1).

    Die “Number needed to harm” (NNH) ist ebenfalls 17: Eines von 17 antibiotisch behandelten Kindern bekommt unerwünschte Nebenwirkungen. Also treten für jedes Kind, bei dem mit Antibiotika eine Schmerzlinderung erreicht wurde, bei einem Kind unerwünschte Antibiotikawirkungen ein (Übelkeit, Erbrechen, Hautausschlag) (NNH = 17) [50] [53]. In Ländern, in denen Antibiotika bei AOM zurückhaltender verschrieben werden, sind Komplikationen nicht häufiger zu beobachten [27] [59]
    Weitere Informationen:
    4.4.H

    Mehrere aktuelle Studien und Reviews empfehlen eine sofortige Antibiotikatherapie nur in schweren Fällen, bei Vorliegen weiterer allgemeiner Krankheitssymptome (Erbrechen, hohes Fieber) oder ein zurückhaltendes Vorgehen in Absprache mit dem Patienten bzw. seinem Betreuer im Sinne der „gemeinsamen Entscheidungsfindung“ (shared decision making) [48] [17] [27] [29] [68].

    Die Bedeutung der “Number needed to treat” (NNT), der “Number needed to harm” (NNH) sowie der relativen und absoluten Risikoreduktion (ARR) wird hier erläutert: http://www.medizinalrat.de/Eb_Medicine/Begriffe_EbM/begriffe_ebm.html

    4.4.1 Einsatz von Antibiotika

    4.4.2 Wahl des Wirkstoffes

    In einer großen Metanalyse von Rosenfeld [54] konnte nach Ablauf von 7-10 Tagen kein eindeutiger Wirksamkeitsvorteil einzelner Antibiotika gezeigt werden. Derzeit können nach EbM-Kriterien keine Empfehlungen für ein bestimmtes Antibiotikum gegeben werden [53]. Die Wahl des Antibiotikums stützt sich daher wesentlich auf die Kriterien:

    • häufigste bakterielle Erreger, (siehe auch 2.3)
    • lokale Resistenzentwicklungen,
    • Ausprägung von Nebenwirkungen und
    • Kosten der Therapie

    Sollte der Einsatz eines Antibiotikums notwendig werden, so empfiehlt sich zunächst der Einsatz von Amoxicillin [53] [10] [3]. Wesentliche Kontraindikationen: Penicillin-Allergie und das Vorliegen einer Epstein-Barr-Virus (EBV)-Infektion. In einer Übersicht der Agency for Healthcare Research and Quality [2] wird im Hinblick auf mögliche gastrointestinale Nebenwirkungen eine leichte Überlegenheit von Amoxicillin gegenüber oralen Cephalosporinen konstatiert.

    Die Kombination mit Clavulansäure ist dann zu empfehlen, wenn Anhaltspunkte für eine erhöhte Betalaktamasebildung (z.B. bei Haemophilus, S. pneumoniae und Moraxella) bestehen, sollte jedoch nach Möglichkeit nicht routinemäßig erfolgen.

    Bei Penicillin-Allergie können Makrolide (Erythromycin, Clarithromycin, Azithromycin) zum Einsatz kommen (siehe auch 4.4.2H1). Oral-Cephalosporine sind als Mittel der Reserve anzusehen, häufig bestehen Kreuz-Allergien zu Penicillinen.

    4.4.2.1 Empfohlene Antibiotika

    Bei den Dosierungen ist zu beachten, dass sich im Kindesalter körpergewichtsbezogene Dosierungsangaben mit dem Alter des Kindes ändern können.
    Überprüfen Sie die folgenden Angaben bitte stets anhand der jeweiligen Fachinformationen.

    Mittel der ersten Wahl:

    • Amoxicillin
      40-50 mg/kg KG verteilt auf 3-4 Einzeldosen pro Tag p.o.
      (Kinder 6-12 Jahre: Tagesdosis: 900-2000 mg, verteilt auf 3-4 Einzeldosen pro Tag p.o.
      Kinder ab 12 Jahre und Erwachsene: Tagesdosis: 1,5-3 g, verteilt auf 3-4 Einzeldosen pro Tag p.o.)

    Bei Hinweisen auf erhöhte Betalaktamasebildung:

    • Amoxicillin/Clavulansäure (z.B. Augmentan®) Pharmalink
      20-40 mg/kg KG verteilt auf 3 Einzeldosen pro Tag p.o.

    Makrolide bei Penicillinallergie:

    • Azithromycin
      10 mg/kg KG 1 x tgl p.o. über 3 Tage
    • oder Erythromycin
      26-30 mg/kg KG verteilt auf 3 Einzeldosen pro Tag p.o.
    • oder Clarithromycin 
      15 mg/kg KG verteilt auf 2 Einzeldosen pro Tag p.o.

    Reserve: Cephalosporin bei Penicillinallergie

    • Cefuroxim-Axetil
      20-30 mg/kg KG verteilt auf 2 Einzeldosen pro Tag p.o.

    Auch bei Erwachsenen ist Amoxicillin gegen die verbreitetsten Erreger wirksam und kann als Antibiotikum der ersten Wahl empfohlen werden [60] [11].

    Eine primäre Behandlung mit Azithromycin vor allem aber mit Trimetoprim/Sulfometoxazol (TMP/SMX) sollte nach Möglichkeit vermieden werden. Wie sich in einer israelischen Studie zeigte, litten 15% der primär mit Azithromycin und 30% der primär mit TMP/SMX behandelten Patienten unter resistenten Stämmen von S. pneumoniae [14]. Die Resistenzentwicklung erfolgte innerhalb weniger Tage nach Beginn der antibiotischen Therapie.
    Wesentliche Kontraindikationen für Amoxicillin: Penicillin-Allergie und das Vorliegen einer EBV-Infektion.

    Bei unzureichender Compliance der Eltern und dringlicher Behandlungsindikation ist auch die einmalige i.v.- oder i.m.-Gabe von Ceftriaxon möglich.

    4.4.3 Dauer des Einsatzes

    In einer großen Metaanalyse konnte gezeigt werden, dass eine 5-tägige Behandlung, bei unkomplizierter AOM gegenüber einer längeren (7-10 Tage) ausreicht [43]. Abhängig vom Verlauf (Ggf. erneute Rücksprache mit dem Patienten/Betreuer erforderlich, siehe 4.4.6 link) sollte eine Antibiose für eine Dauer von 5 Tagen verordnet werden (Azithromycin: 3 Tage).

    4.4.4 Nebenwirkungen und Folgen des Einsatzes von Antibiotika

    Die Gabe von Antibiotika kann ihrerseits zur Entwicklung von Übelkeit, Erbrechen und/oder Durchfall führen [18]. Bei 19% der antibiotikabehandelten Kinder wurde Durchfall beobachtet, verglichen mit 9% bei den symptomatisch Behandelten [47]. Andere Publikationen geben die “Number needed to harm” (NNH) mit 17 an [53] [50] (siehe auch 4.4).

    Die Resistenzentwicklung gerade auch im Zusammenhang mit dem Einsatz von Breitbandantibiotika ist sehr ernst zu nehmen, auch wenn die Situation in Deutschland noch vergleichsweise weniger dramatisch erscheint. Im Vordergrund stehen Resistenzentwicklungen gegenüber Betalaktamase-positiven S. pneumoniae und das Auftreten von Betalaktamase positiven H. influenzae.

    Der Einsatz von Antibiotika kann unter Umständen einen Circulus vitiosus bewirken, in dem die mangelnde Wirksamkeit einer Substanz zum Einsatz anderer Präparate führt, durch die wiederum sekundäre Resistenzen entstehen. So konnte bei Kindern, welche über längere Zeit keine Antibiotika erhielten, kaum eine Kolonisation mit resistenten S. pneumoniae nachgewiesen werden. Demgegenüber waren bei 25% der aktuell mit Antibiotika bei AOM behandelten Kinder resistente Stämme
    feststellbar [
    14].

    4.4.5 Zusammenfassende Aspekte zur Antibiotikatherapie:

    Für eine primäre Antibiotikatherapie sprechen:

    • Unter Umständen eher eintretende Schmerzfreiheit (etwa ein Tag)
    • Möglicherweise leicht verringertes Risiko für Folgeerkrankungen wie Mastoiditis.

    Gegen eine primäre Antibiotikatherapie sprechen:

    • Die mögliche Entwicklung von resistenten Keimen mit konsekutiver Wirkungslosigkeit insbesondere bei häufigerem intraindividuellen Einsatz von Antibiotika
    • Das mögliche Auftreten von Nebenwirkungen, Überempfindlichkeiten oder Allergien gegen das Antibiotikum (Diarrhoen, Übelkeit, Hautauschlag).

    4.4.6 Schlussfolgerungen Antibiotikatherapie

    Orientiert man sich an den umfangreichsten und qualitativ besten internationalen Studien, so ist bei unkomplizierter AOM ein zurückhaltendes Vorgehen in den ersten 36-48 Stunden (von Symptombeginn an) gut vertretbar [47] [29] [68]. Bestehen nach Ablauf dieser Zeit weiterhin lokale Schmerzen, so sollte in jedem Falle Rücksprache mit dem behandelnden Arzt gehalten werden.

    Die Patienten/Betreuer sollten durch ein Gespräch und durch ein Merkblatt (siehe Patientenleitlinie) ausführlich über dieses Vorgehen informiert und ausdrücklich auf die ggf. notwendige Neubewertung nach 36-48 Stunden bzw. eine Rücksprache mit der/dem behandelnden Ärztin/Arzt hingewiesen werden. Zuverlässige Patienten/Betreuer können eine ausgestellte ärztliche Verordnung eines Antibiotikums abhängig vom Krankheitsverlauf erst später einlösen [47].

    4.4.7 Einschränkungen für Kinder unter 2 Jahren

    Über den Einsatz von Antibiotika in dieser Altersgruppe liegen einzelne kontrolliert randomisierte Studien vor (z.B. [16]). Es gibt bisher keine Evidenz dafür, dass sich ein abwartendes Vorgehen hinsichtlich Antibiotikaeinsatz in dieser Patientengruppe anders auswirkt als bei älteren Patienten. Aufgrund der unter Umständen erschwerten Beurteilbarkeit von Symptomen bei Kindern dieser Altersgruppe sollte jedoch eine engmaschige Kommunikationsmöglichkeit mit der/dem behandelnden Ärztin/Arzt gewährleistet sein.[69]

    4.4.8 Empfehlungen – Antibiotikatherapie:

    • In den ersten zwei Tagen einer neu aufgetretenen, unkomplizierten Otitis media ist - das Einverständnis der Betreuer/des Patienten vorausgesetzt - eine alleinige symptomatische Therapie z.B. mit Paracetamol oder Ibuprofen vertretbar. (B)
       
    • Das Aushändigen eines Rezeptes mit der Option, dieses nur bei Bedarf einzulösen, ist ein probates Vorgehen bei aufgeklärten und kooperativen Betreuern/Patienten. (A)
       
    • Eltern/Betreuer/Patienten sollten mündlich und mit dem Patientenmerkblatt über das Vorgehen informiert sein. (C)
       
    • Amoxicillin (5 Tage) oder Makrolide (bei Penicillinallergie) sind Mittel der Wahl bei ... (C)
      • ... unzureichender Beschwerdebesserung nach drei Tagen
      • ... Initial stark ausgeprägten Krankheitszeichen
      • ... Wunsch der Eltern/Betreuer.
         
    • Kinder unter 2 Jahren sollten 24 Stunden nach Symptombeginn erneut gesehen werden, Kinder über 2 Jahren nach 2-3 Tagen. (C)

    4.5 Nachuntersuchungen [22]
    Jedes Kind, bei dem eine Otitis media diagnostiziert wurde, sollte nachuntersucht werden. Der beste Zeitpunkt ist etwa drei bis vier Wochen nach Therapiebeginn, falls das Kind nicht vorher schon wegen anhaltender Beschwerden vorgestellt wurde. Das Trommelfell und seine Beweglichkeit sollten beurteilt werden (Otoskopie, wenn möglich Tympanometrie). Der Erguss sollte nach drei bis vier Wochen verschwunden sein, bei etwa 20% der Kinder ist auch nach zwei Monaten ein Erguss noch nachweisbar [
    61] [49]. Ausserdem sollte das Trommelfell auf Zeichen der Abheilung nach Perforation untersucht werden.
    Ein Hörtest gehört ebenfalls zur Nachuntersuchung. Auffällige Befunde bei der Nachuntersuchung sollten fachärztlich abgeklärt werden.

    4.6 Langfristige antibiotische Prophylaxe

    Bei rezidivierender Otitis media wird in den USA häufig zu einer langfristigen Prophylaxe z.B. mit Amoxicillin geraten [37]. Eine Metaanalyse wies eine Reduktion des Rückfallrisikos unter Antibiotikaprophylaxe über 3 bis 24 Monate von 0,19 auf 0,08 pro Patient und Monat nach (AAR =11%, NNT = 9) [67]. Eine neuere Studie konnte keinen Effekt gegenüber Plazebo nachweisen [31].

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